Pétanque: Die Variante des Boulespiels wurde vor 100 Jahren in La Ciotat erfunden
Steil steht die Sonne über der Bucht von La Madrague, Fischerboote dümpeln im Hafen, Urlauber am Pool der vielen Ferienanlagen. Nur Bernhard will einfach eine ruhige Kugel schieben.
Der Urlauber steht am Rand eines 4 Meter breiten und 15 Meter langen Spielfeldes und wirft Kugeln, erst eine kleine aus Holz, dann große aus Metall hinterher. Um seine Füße hat Bernhard einen engen Kreis gezogen, den er bis zum Ende der Spielrunde nicht mehr verlässt. Sein Blick ist konzentriert, ein Sonnenhut schirmt das gleißende Licht der Provence ab. Der Körper ist angespannt, die Arme stoßen, schießen, drehen die Kugeln so punktgenau wie möglich. Kein Zweifel, Bernhard hat das Pétanque-Fieber gepackt. Zunächst zaghaft, als Nathalie, Gästebetreuerin der Hapimag Ferienanlage in La Madrague, die Spielregeln erklärte. Dann stärker, als Bernhard zusammen mit seiner Frau in einem ersten Wettstreit einer Familie aus Frankfurt unterlag. Schließlich voll und ganz, denn die Ferien gehen zu Ende, und am letzten Tag gibt es ein Abschlussturnier, das Bernhard unbedingt gewinnen will: „Pétanque gehört ebenso zur Provence wie das besondere Licht oder der Duft von Lavendel, Thymian und Rosmarin", sinniert der Neuschweizer.
Boulodrome bedeutet Bouleplatz - und wer da an die bunten Plastikkugeln denkt, die Familienurlauber gern am Strand werfen, kennt nur eine Variante unter vielen. La boule bedeutet zunächst nichts weiter als die Kugel und ist in unterschiedlichen Varianten auf Frankreichs öffentlichen Plätzen vertreten. Etwa in Gestalt des Boule Lyonnaise, das mit Anlauf und über eine Entfernung von 12 bis 20 Metern gespielt wird. Oder etwas weiter südlich als Jeu Provençal: Hier nimmt der Spieler drei Schritte Anlauf aus einem Kreis und schießt die Kugel auf einem Bein stehend ins Ziel.
Aber wie soll das jemand schaffen, der schweres Rheuma hat und zudem an den Rollstuhl gefesselt ist? So ging es im Jahr 1910 Jules Le Noir, Kaufmann aus La Ciotat, einer kleinen Hafenstadt, 30 Kilometer von Marseille entfernt. Le Noir war ein exzellenter Spieler und nun zum Zusehen verdammt. Weil ihn das zugleich wurmte und langweilte, fing er an, Kugeln ohne Anlauf und Bewegung mit geringer Distanz zu werfen. Das war die Geburtsstunde des Spiels mit geschlossenen Füßen, auf Französisch pieds tanqués, auf Provenzalisch ped tanco, aus dem bald Pétanque wurde, wie Liliane Siréta erklärt, die Leiterin des Tourismusbüros in La Ciotat.
Die frühere Industriestadt besaß einmal eine bedeutende Werft. Heute sind davon nur noch ein Gerippe und heruntergekommene Lagerhallen übrig. Das eigentliche Leben der Stadt spielt sich weiter östlich ab - zumindest im Sommer. Dann wächst die Bevölkerung von 36 000 Einwohnern auf das Dreifache heran. Die Gäste kommen wegen der Sonne und wegen der Nähe zum Meer. Sie fahren mit dem Boot in die vielen Felsbuchten, die Calanques, oder mit dem Auto über die Corniche des Crêtes, eine Panoramastraße mit zahlreichen Aussichtsplattformen. Sie picknicken auf der Ile Verte, der einzigen bewaldeten Insel im Departement, und sie baden in der geschützten Bucht, die von La Ciotat bis nach La Madrague reicht.
Manche Gäste zieht es ins historische Kino, das Eden Théatre. „Das ist das älteste existierende Kino der Welt", sagt Liliane Siréta. In La Ciotat hatten auch die Brüder Lumière einen Wohnsitz, hier drehten sie einen ihrer ersten Filme: „Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof in La Ciotat", ein Stummfilm aus dem Jahr 1896. Den Bahnhof gibt es schon lange nicht mehr, wohl aber das Boulodrome, auf dem Jules Le Noir das Pétanque erfand. Eine kleine Plakette erinnert daran.
Beim Pétanque, der provenzalischen Variante des Boules, kommt es oft auf Millimeter an. Foto: dpa
Deike Uthenwoldt
RZ vom 19.11.2011