Gewerkschaftssekretär Paul Ziegler leitete den Streik

Seit 1874 betrieb die Firma Friedrich Boesner in Rengsdorf eine Kettenschmiede, in der hauptsächlich die Abfälle der Augustenthaler Drahtzieherei verwertet wurden; an 13 Feuern waren hier etwa 45 Arbeiter beschäftigt.

Im Januar 1908 reduzierte die Betriebsleitung die Löhne der in Rengsdorf beschäftigten Schmiede um 10 % und begründete dies mit der schlechten Konjunkturlage. Als die Arbeiterschaft im Juni des Jahres den Antrag stellte, diese Lohnreduzierung wieder rückgängig zu machen, wurde dies zunächst von der Betriebsleitung akzeptiert, da diese glaubte, „dass der tiefste Punkt überschritten sei und man wieder besseren Zeiten entgegensehen konnte":

Es zeigte sich dann aber doch, dass die wirtschaftliche Flaute anhielt, so dass Boesner am 24. August die Reduzierung der Löhne um 10 % wieder wirksam werden ließ und zugleich den Arbeitern, die dies nicht akzeptieren wollten, eine Kündigung nahe legte.

Mit einem Streik gegen Lohnkürzungen

Von den zu diesem Zeitpunkt beschäftigten 46 Arbeitern reichten tatsächlich 42 am gleichen Tag noch die Kündigung zum 5. September ein und wurden zwei Wochen später aus dem Arbeitsverhältnis entlassen. Die Kettenproduktion in Rengsdorf wurde eingestellt und die vier verbleibenden Arbeiter erhielten Beschäftigung im Hauptwerk in Augustenthal. Zugleich gab die Geschäftsführung bekannt, eine Wiedereröffnung der Produktion sei nur möglich, wenn die Löhne - neben der Rücknahme der Lohnkürzung um  10 % - nochmals um 7,5 % reduziert würden.

Der Vorgang stellt sich vordergründig als eine ganz normale Kündigung dar, wie auch Friedrich Boesner in einem Schreiben an den Landrat vom 30. September betonte: die Kündigungen seien „ordnungsgemäß" erfolgt, so dass von einem Arbeitskampf keine Rede sein könne.

Tatsächlich verstanden die beteiligten Kettenschmiede ihre Kündigung aber als eine Kampfmaßnahme. Denn anders als heute war im Kaiserreich das Streikrecht nicht verfassungsmäßig garantiert, so dass im Rahmen der damaligen Rechtsordnung Streiks nur durch kollektive Kündigungen des Arbeitsverhältnisses nach § 622 des wenige Jahre zuvor in Kraft getretene Bürgerlichen Gesetzbuches möglich waren.

Diese Funktion der Kündigung wurde sehr deutlich, als der Gewerkschaftssekretär Paul Ziegler in einer Zeitungszuschrift von einem „Kampf um die Existenz" der Kettenschmiede sprach. Nach seiner Darstellung reichten die bis zur Kündigung geltenden Lohnsätze kaum zum Leben aus; die Firma habe selbst zugegeben, dass die Löhne unzulänglich seien. Die Ursache des Problems liege darin, dass dich die Lebenshaltung der Rengsdorfer Arbeiter in den letzten Jahren dadurch verteuert habe, dass der Ort sich wegen seiner gesunden Lage zu einem gut besuchten Kurort mit etwa 5.000 Sommergästen entwickelt habe. Nach Berechnungen der Gewerkschaft betrügen die durchschnittlichen Stundenlöhne zwischen 21 und 24 Pfennigen. Bei diesen geringen Lohnsätzen müssten die Kettenschmiede neben ihrer körperlich sehr anstrengenden Arbeit an den Schmiedefeuern oft noch recht schwere Feldarbeit übernehmen.

Paul Ziegler organisierte den Streik

Paul Ziegler war seit 1907 Bezirksleiter des neu gegründeten Bezirks Siegen de Gewerbevereins deutscher Maschinenbau- und Metallarbeiter, einem Zweigverband des Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereins, den liberalen Parteien nahe stand. Schon seit etwa einem Jahr vorher hatte dieser Verband die Rengsdorfer Arbeiter zu einem Arbeitskampf bewegen wollen und hierfür erfolgreich Mitglieder geworben.

Auch jetzt waren es Ziegler und ein zweiter aus Berlin angereister Gewerkschaftssekretär, die die Arbeiter zur kollektiven Kündigung aufforderten. Waren diese Mitglieder des Gewerkverbandes, so stand ihnen ein halbes Jahr lang eine tägliche Streikunterstützung in Höhe von 2,50 Mark für Verheiratete und 2,00 Mark für Unverheiratete zu.

  

Gewerkschaftssekretär Paul Ziegler leitete den Streik

Mitte September stellten die Arbeiter in einem Flugblatt ihre Position und ihre Forderungen dar und erregten damit nach Darstellung Zieglers „unter den Einwohnern und besonders auch unter den Kurgästen großes Aufsehen". Hierbei wurde ausführlich auf die bisher gezahlten Löhne und die geplanten Kürzungen eingegangen, daneben aber auch auf andere kritikwürdige Arbeitsbedingungen: die Arbeiter seien hinsichtlich der Nutzung des Gebläses den Schikanen des Meisters Fackert ausgesetzt und selbst die Königliche Gewerbeinspektion habe die Zuführung von frischer Luft an die Arbeitsplätze als mangelhaft bezeichnet.

Mit diesem Flugblatt informierten die Rengsdorfer Arbeiter über ihre Ziele.

Boesner stellte seine Vorgehensweise in einem Schreiben an Landrat von Elbe vom 30. September als von den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen erzwungen dar. Die Produktion von geschmiedeten Ketten in Rengsdorf sei schon seit Jahren unrentabel gewesen, da die Einführung der elektrischen Schweißung bei der Kettenherstellung die Preise um 3 bis 5 Prozent gedrückt habe. „Moderne Anlagen können in Rengsdorf mangels billiger elektrischer Kraft und infolge der teuren Transportverhältnisse für die Rohstoffe nicht eingerichtet werden. Die Firma hat daher in letzter Zeit in Erwägung gezogen, den Betrieb in Rengsdorf ganz zu schließen."

Verhandlungen ohne Ergebnis

Wiederholt wurden zwischen der Firmenleitung und einer aus drei Personen bestehenden Abordnung der Arbeiter - wahrscheinlich handelte es sich hierbei um Johann Wilhelm Schlotterbeck und Heinrich Kurz aus Rengsdorf und um Karl Franz aus Bonefeld - Gespräche geführt, ohne dass es zu einer Annäherung der Standpunkte kam. Auch der Rengsdorfer Amtsbürgermeister Wink bot sich als Vermittler an, fand jedoch bei Boesner keine Resonanz. Einen Bericht an den Landrat vom 22. September schloss er mit der eindeutigen Bemerkung: „Tatsache ist allerdings, dass hier die Löhne verhältnismäßig gering waren."

Beide Seiten spielte nun auf Zeit. Boesner hoffte, die Gewerkschaft werde bald auf ein Ende des Streiks drängen, um ihre Unterstützungszahlungen an die Streikenden beenden zu können; zudem deutete er an, er könne seinen Lieferverpflichtungen günstiger dadurch nachkommen, dass er billige Ketten aus Westfalen beziehe, als dass er diese in Rengsdorf selbst produzieren lasse.

Die streikenden Kettenschmiede appellierten an die Solidarität der übrigen Arbeiter: „Meidet den Betrieb der Firma Boesner. Jeder ehrlich und gerecht denkende Mensch wird in diesem Kampf auf Seiten der Arbeiter stehen!" Zugleich setzten sie - anders als Boesner - auf die Vermittlung der staatlichen Instanzen. Insbesondere des Landrates von Elbe, wie dies in einer Resolution zum Ausdruck kam, die von 150 an einer Streikversammlung im Saal der Witwe Anhäuser am 19. November teilnehmenden Arbeitern beschlossen wurde.

Auch der Landrat kann nicht vermitteln

Von Elbe hatte noch am 10. Oktober erklärt, er halte eine Vermittlung seinerseits nicht für angezeigt, da die Arbeiter gleichzeitig Landwirte seien und dadurch vor Brotlosigkeit bewahrt wurden. Nun wolle er sich aber dem Wunsch nach Vermittlung nicht mehr entziehen und empfing daher am 8. Dezember eine Delegation der streikenden Kettenschmiede. Diese erklärten ihm, sie und ihre Kollegen seien bereit, einen 10 %-igen Lohnabzug zu akzeptieren, dies jedoch nur unter der Voraussetzung, „dass ihnen die volle Ausnutzung des Gebläses gewährleistet sei."

Der Landrat äußerte sich hinsichtlich der Chancen seiner Vermittlung auf der Grundlage dieses Kompromissangebotes gegenüber dem Koblenzer Regierungspräsidenten recht skeptisch: Die Kettenschmiede in Rengsdorf können aufgrund der hohen Transportkosten für Rohstoffe und Fertigwaren kaum konkurrenzfähig produzieren; hinzu käme der für einen Arbeitskampf ungünstige Zeitpunkt: „Der Gewerkverein hat den großen Fehler begangen, gerade zur Zeit der schlechten Konjunktur mit dem Lohnkampf vorzugehen."

In der Tat lehnte Boesner eine Vermittlung des Landrates am 09. Dezember eindeutig ab, zumal zurzeit keinerlei Aufträge vorlägen. „Ob ich überhaupt mit sämtlichen Kettenschmieden die Arbeit wieder einmal aufnehmen lasse, möchte ich heute schon verneinen, weshalb ich es unter den gegebenen Umständen wohl für das beste halte, wenn sich die Leute nach anderer Beschäftigung umsehen".

Friedrich Boesner schließt die Rengsdorfer Kettenschmiede

Boesner ließ seiner Ankündigung recht bald Taten folgen. Am 09. Januar 1909 wurde das Rengsdorfer Fabrikgebäude in der Neuwieder Zeitung öffentlich zum Verkauf angeboten.

Als sich jedoch kein Kaufinteressent fand, überließ Boesner das Gebäude als Stiftung dem Kinderheim.

Die Niederlage der Rengsdorfer Kettenschmiede in ihrem Kampf um Löhne und Arbeitsbedingungen war vollständig. Dies bedeutete jedoch keinesfalls auch den Niedergang der beteiligten Metallarbeiter- Gewerkschaft. Im Jahre 1922 lässt sich in Rengsdorf die Tätigkeit einer Hirsch-Dunckerschen Organisation „für den vorderen Westerwald" nachweisen. Und bei einer Feier zum 60-jährigen Bestehen der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine im August 1928 trat Paul Ziegler, mittlerweile Mitglied des Reichstages für die DDP, in Neuwied als Hauptredner auf.


 

Die Rengsdorfer Kettenschmiede der Firma Boesner wurde nach ihrer Schließung als Kinderheim genutzt.

Dr. Lothar Kurz
Fotos: Archiv Rolf Weingarten

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